Heinzelwein-Dreier für den Juni 2022: rotbeschwingtes Ungarn und ein weißer Fels in der Brandung aus Südtirol, dazu Gedanken über die Bedeutung des Unverfügbaren

Der Heinzelwein-Dreier ist eine monatliche Serie, die Ihr hier abonnieren könnt.

Mitte Mai war ich in Düsseldorf auf der Prowein, der größten und wichtigsten internationalen Fach-Weinmesse, die letztes und vorletztes Jahr wie so viele Veranstaltungen abgesagt werden mußte. Dieses Jahr fand sie ungewohnt spät statt und war deutlich ruhiger als sonst – aber auch deutlich glücklicher. Endlich wieder all die vertrauten Gesichter zu sehen, mit Menschen statt Bildschirmen sprechen! Es waren viele gute Begegnungen, und viele großartige Weine.

Zoli Heimann aus Szekszárd macht mit seinen Rotweinen Riesensprünge nach vorn, und ungeachtet der Tatsache, daß ich ihn vor beinahe genau einem Jahr schon einmal vorgestellt habe, möchte ich wiederum auf seinen Kadarka verweisen. Frucht und Beschwingtheit sind so fein auf den Punkt gebracht, bringen mich zuverlässig und unbewußt zum Lächeln und Lachen (wie Zoli selbst), wirken unverbogen wie ein Naturwein ohne auch nur einen Deut Abstriche in punkto Eleganz zu machen. 2019 war super, 2020 war spitze, 2021 strahlt….

Eine wirklich große Freude war es auch, Willi Stürz wiederzusehen, den langjährigen Kellermeister der Cantina Tramin in Südtirol, eine der beeindruckendsten und größten Winzergenossenschaften überhaupt. Willi hat ab Mitte der 1990er Jahre zusammen mit einer kleinen Gruppe von Winzerfreunden die neue, moderne Stilistik der Weine des Gebiets entscheidend mitgeprägt – seine Gewürztraminer sind legendär und trotzdem gefährlich trinkbar. Was ich bislang nicht so richtig auf dem Schirm hatte, ist der Stoan, eine Weißweincuvée aus Chardonnay mit Sauvignon, Weißburgunder und etwas Gewürztraminer. Seit 2002 bringt sie Tramin ins Glas, ist laut Willis Beschreibung (der ich nichts hinzuzufügen habe) „fruchtbetont aber nicht einfach, frisch aber nicht schlank, sondern komplex, vereint die alpine Landschaft mit mediterranem Lebensgefühl“. Für mich wirkt dieser Wein (den ich in Düsseldorf als 2020 probiert habe) wie ein Fels in der Brandung, und das ist gerade im Moment so wichtig.

Nein, das ist nicht der Stoan…

Nicht unmittelbar damit zusammenhängend, aber mir im Moment ebenso wichtig sind die Gedanken und Bücher von Hartmut Rosa, einem der wichtigsten Soziologen und Philosophen der Gegenwart. Er beschäftigt sich mit Beschleunigung und Resonanz, also auch mit Burnout und Entfremdung. Er schreibt sehr verständlich, aber seine wichtigsten Werke sind ziemliche Wälzer. Daher hier der Hinweis auf den kurzen Essay Unverfügbarkeit, der so beginnt:

Erinnern Sie sich noch an den ersten Schneefall in einem Spätherbst oder Winter Ihrer Kindheit? Es war wie der Einbruch einer anderen Realität. Etwas Scheues, Seltenes, das uns besuchen kommt, das sich herabsenkt und die Welt um uns herum verwandelt, ohne unser Zutun, als unerwartetes Geschenk. Der Schneefall ist geradezu die Reinform einer Manifestation des Unverfügbaren. Wir können ihn nicht herstellen, nicht erzwingen, nicht einmal sicher vorherplanen, jedenfalls nicht über einen längeren Zeitraum hinweg. Und mehr noch: wir können des Schnees nicht habhaft werden, ihn uns nicht aneignen: Wenn wir ihn in die Hand nehmen, zerrinnt er uns zwischen den Fingern, wenn wir ihn in die Tiefkühltruhe packen, hört er auf, Schnee zu sein. Vielleicht sehnen sich eben deshalb so viele Menschen – nicht nur die Kinder – nach ihm, vor allem an Weihnachten. Viele Wochen im voraus werden die Meteorologen bestürmt und bekniet: Wird es dieses Jahr weiß? Wie stehen die Chancen? Und natürlich fehlt es nicht an Versuchen, Schnee verfügbar zu machen: Wintersportorte werben mit Schneegarantie und präsentieren sich als „schneesicher“; sie helfen mit Schneekanonen nach und entwickeln Kunstschnee, der auch bei 15 Grad plus noch durchhält.

In unserem Verhältnis zum Schnee spiegelt sich das Drama des modernen Weltverhältnisses wie in einer Kristallkugel: Das kulturelle Antriebsmoment jener Lebensform, die wir modern nennen, ist die Vorstellung, der Wunsch und das Begehren, Welt verfügbar zu machen. Lebendigkeit, Berührung und wirkliche Erfahrung aber entstehen aus der Begegnung mit dem Unverfügbaren. Eine Welt, die vollständig gewusst, geplant und beherrscht wäre, wäre eine tote Welt. Das ist keine metaphysische Einsicht, sondern eine Alltagserfahrung.

Weiterlesen sehr empfohlen!

Passend zum Thema war auch für dieses Foto der Stoan unverfügbar.

Die Idee dieser monatlichen Empfehlungen: Zwei Flaschen, und zu den flüssigen Geschichten außerdem eine in Worten, oft in Gedicht- oder Musikform – das ist der Heinzelwein-Dreier. Kein Verkaufsformat, sondern der Versuch, zumindest einen Teil dessen, was mir so an Wein und Worten begegnet, mit Euch zu teilen – abonnieren könnt Ihr diese Serie hier. Und damit Ihr nicht lange suchen müßt: die Weine gibt es hier und hierhier könnt Ihr das Buch bestellen. Lesen, trinken und schmecken, denken und leben, müßt Ihr wie immer selbst.

2 Gedanken zu „Heinzelwein-Dreier für den Juni 2022: rotbeschwingtes Ungarn und ein weißer Fels in der Brandung aus Südtirol, dazu Gedanken über die Bedeutung des Unverfügbaren“

  1. Hallo Frau Heinzelmann, der Stoan klingt spannend; vielen Dank auch für die Erinnerung daran, endlich dieses Buch zu lesen, das seit Ewigkeiten im Regal liegt.
    Ich will ja nicht ‚rumposen. Ich bin gerade von einer Kanadareise zurückgekommen; dass dort richtig guter, ziemlich ungewöhnlicher Wein gemacht wird, konnte ich mir nicht vorstellen. Es ist aber so! Als in Deutschland gerade die Weinmesse lief, besuchten wir das Weingut Lightfoot & Wolfville, eins von 5 Bioweingütern in Kanada. Der Hang mit den Weinstöcken endet an der Bay of Fundy, die jeden Tag einen immens hohen Tidenhub erlebt. Wir haben hier also eine permanente Salzwasser“besprühung“. Der Chardonnay war spannend, völlig ungewohnt. Einen Riesling habe ich hergeschleppt, mal sehen, wie der ist. Ein weiteres Erlebnis war der Rosé aus British Columbia, sehr rund & voll im Geschmack, bisschen beerig dabei. Irre, wo überall Wein produziert wird – & mit tollen Ergebnissen. Wollte ich nur ‚mal erzählen. Herzlichen Gruß von Bettina Frey

    1. Aah – Kanada. Oh ja. Viel viel Gutes an Wein, und Käse! Wie übrigens auch hier und hier nachzulesen. Danke für das Feedback, es freut die Autorin, wenn sie nicht nur „ins Blaue“ schreibt!

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