Der Heinzelwein-Dreier ist eine monatliche Serie, die Ihr hier abonnieren könnt.
Ich beschäftige mich gerade viel mit dem Älterwerden – wahrscheinlich eine Reaktion auf die trotz mittäglich hochsommerlicher Temperaturen deutlich kürzer werdenden Tage und kühleren Nächte. Der Herbst naht; und es gibt für mich kaum einen Wein, der so sehr in den Übergang zwischen Sommer und Winter paßt wie der Traminer, mit seinen lebhaften, aber in ihrer rauchigen Intensität auch beinahe melancholischen Aromen.
Mit einer Gruppe von Heavy-Usern (Händlern, Sommeliers, Journalisten) haben wir neulich über 30 dieser Weine verkostet – ein Fest! Dabei war in den 1980ern der Ruf dieser uralten Rebsorte am Boden, er galt als süßlicher, parfümierter, nahezu unverkäuflicher Wein. Der Reload als trocken, essentauglich und vor allem mit Trinkfluß ist einer Gruppe von Südtiroler Winzern zu verdanken, die in den 1990ern einen Weinstil schufen, der mich an Sonnenuntergänge in den Dolomiten und rosa Grapefruit denken läßt und sich auch als „Riesling on steroids“ bezeichnen ließe – eine Flasche zu zweit als Apero auf dem Balkon? Kein Problem! Damals war das auch eine Reaktion auf die Neutral-Weißwein-Pinot-Grigio-Welle, an der wir alle schier erstickten. Längst sind diese Traminer-Spitzencuvées nicht nur mit die gefragtesten Weißweine Italiens, sondern auch Vorbild für viele andere. Noch besser: die großen Kellereien in Tramin und Kurtatsch bieten neben ihren Topweinen Nußbaumer und Brenntal auch „normale“ Gewürztraminer in ähnlichem Stil an (zur Nomenklatur Traminer/Gewürztraminer/Savagnin könnt Ihr hier mehr lesen), die etwas zugänglicher sind und für diese Qualität ausgesprochen erschwinglich. Herbstwein par excellence. Feigen, frische Minze, eine Scheibe Schinken! Oder ein gebratenes Entenbein, Wurzelgemüse aus dem Ofen…
Die nächste Etappe in der Entwicklung des Traminers wurde durch die Naturweinbewegung ausgelöst – was passiert, wenn wir möglichst wenig tun, nichts für selbstverständlich halten, so viel wie möglich weglassen? Antwort: Weine ohne das „typische“, duftige Aroma, mit deutlichem Gerbstoff im Nachhall, das Gegenteil von schmeichelnd – das ist erst einmal gewöhnungsbedürftig (so wie all die Veränderungen, die mit dem Älterwerden anheim gehen). Aber es sind Weine, die intelligente Zuwendung einfordern – und sie dann ebenso belohnen wie die gängigere Traminer-Variante. Nico Espenschied experimentiert in Rheinhessen mit seiner Hautnah-Linie seit 2012 in diese Richtung, und ich finde, mit dem 2018 hat er wirklich den Nagel auf den Kopf getroffen. Knapp sechs Wochen auf der Maische vergoren, ohne Schwefelzusatz abgefüllt, anfangs stark vom Gerbstoff bestimmt, doch dann diese tiefe, orange Wonne…
Ja, und ich lese also zum Thema Alter, und Vergessen – was ist Gedächtnis eigentlich, was ist Geist, was ist Körper, was passiert da, wie gehen wir damit um (drei sehr empfehlenswerte Titel zum Thema Demenz findet Ihr unten), und dann fiel mir ein Gespräch mit Susan Sontag ein, das sie 1978 mit dem Journalisten Jonathan Cott für den Rolling Stone geführt hat. Anläßlich ihrer Krebserkrankung sagt sie (und ich weiß, Krebs und Demenz sind zweierlei, beinahe das Gegenteil, aber trotzdem):
„Auch ich habe mich aufgelehnt. Aber ich spürte keine Wut, denn da war niemand, gegen den sich diese Wut hätte richten können. Man kann nicht wütend auf die Natur sein. Oder wütend auf die Biologie. Wir alle müssen sterben – und es ist sehr schwer, das zu begreifen -, und wir alle erleben diesen Prozeß. Es fühlt sich so an, als wäre diese Person – die sich vor allem in deinem Kopf befindet – in einem Körper gefangen, der allenfalls siebzig oder achtzig Jahre lang ein halbwegs annehmbares Leben ermöglicht. Von einem gewissen Moment an beginnt er zu zerfallen, und dann kann man sein halbes Leben lang, wenn nicht sogar noch länger, dabei zusehen, wie sich das Material immer weiter abnutzt. Und man kann nichts dagegen tun. Man ist in seinem Körper eingeschlossen, und wenn er geht, geht man mit. Wir alle erleben das an uns selbst. Wenn man Menschen mit sechzig oder siebzig, die man gut kennt, fragt, wie alt sie sich fühlen, sagen sie, sie fühlen sich wie vierzehn… und dann schauen sie in den Spiegel und sehen dieses alte Gesicht. […]
Der traditionelle Bogen des menschlichen Lebens sieht vor, daß es zu Anfang mehr auf die physischen und zum Ende mehr auf die kontemplativen Tätigkeiten ausgerichtet ist. Aber man darf nicht vergessen, daß diese Option nur wenigen Menschen offensteht und von der Gesellschaft nicht unterstützt wird. Und ebenso muß gesagt werden, daß viele unserer Vorstellungen darüber, was wir in verschiedenen Lebensaltern tun können und was Alter bedeutet, genauso willkürlich sind wie das stereotype Geschlechterdenken. Ich glaube, die Gegenüberstellungen von jung-alt und männlich-weiblich sind vermutlich die wichtigsten Stereotype. Die Werte, die mit Jugend und Männlichkeit assoziiert werden, werden zum Maßstab gemacht, und alles andere wird als weniger erstrebenswert betrachtet.“
Ich hoffe und glaube, daß sinnliche Weine wie die oben erwähnten dabei helfen können, Körper und Geist beieinander zu halten und sich selbst (was immer der-die-das nun sein mag) in der Welt. Genießt den Herbst.
Die Idee dieser monatlichen Empfehlungen: Zwei Flaschen, und zu den flüssigen Geschichten außerdem eine in Worten, oft in Gedichtform – das ist der Heinzelwein-Dreier. Kein Verkaufsformat, sondern der Versuch, zumindest einen Teil dessen, was mir so an Wein begegnet, mit Euch zu teilen – abonnieren könnt Ihr diese Serie hier. Und damit Ihr nicht lange suchen müßt: den Kurtatsch Gewürztraminer gibt es zum Beispiel hier, hier erreicht Ihr Nico Espenschied und hier bekommt Ihr die Bücher der Gesprächsreihe vom Zürcher Kampa Salon. Die Titel zum Thema Demenz sind: Arno Geiger/Der alte König in seinem Exil, Michael Schmieder/Dement, aber nicht bescheuert, und Andrea Christoph-Gaugusch/DemenZen und die Kunst des Vergessens. Trinken, lesen, schmecken, denken, leben müßt Ihr wie immer selbst.