Heinzelwein-Dreier für den Mai 2022: Heimat und Handwerk im Glas, und dazu Gedanken und Erinnerungen zum Flüchten

Der Heinzelwein-Dreier ist eine monatliche Serie, die Ihr hier abonnieren könnt.

Hier in Berlin – meiner Heimat – ist der Frühling regelmäßig eine Erinnerung daran, daß Erneuerung immer wieder geschieht und möglich ist. Des Winters frösteliges Grau scheint unendlich, treibt alle Nichtberliner*innen an die Grenzen der seelischen Belastbarkeit… und dann drückt plötzlich doch das junge Grün aus dem Boden, platzen Knospen auf und leuchten, ersetzen die Vögel den morgendlichen Wecker.

Die beiden Weine heute sind von ähnlicher Energie, aber nicht anstrengend oder gar etwas „Besonderes“. Eigentlich alles ganz normal, da draußen vor dem Fenster und hier vor mir im Glas – und doch einfach wunderbar.

Der 2020 Riesling Handwerk von Sven Leiner kommt aus der Südpfalz, von den kalkgeprägten Hängen der Kleinen Kalmit, von der Kühle des Pfälzer Waldes und der Wärme des Rheingrabens belebt. Sven arbeitet bereits seit 2005 ökologisch, sein Kennzeichen auf den Etiketten und Kartons sind viele kleine Krabbeltierchen, seine „Verbündeten“. Der Handwerk übersetzt all das sehr geradlinig und zitrusklar mit nur 11,5% Alkohol.

Der 2020 Silvaner der Familie Hench kommt aus Bürgstadt am Main in Franken, wo die Böden vor allem von verwittertem Buntsandstein bestimmt sind. Auch hier wird biologisch-dynamisch gearbeitet, und wie so häufig in Franken scheint der Silvaner besonders geeignet, diesen Landstrich zwischen milderem Rheinklima und den strengeren Bedingungen des großen Kontinents gen Osten im Glas auszudrücken, voller reifer gelber Würze, und doch transparent und unaufdringlich.

Beide Weine sind für mich Heimat.

Schwieriger Begriff. Als Kind hat es mich immer genervt, wenn von Krieg und Flucht und Vertreibung erzählt wurde – war doch in den 1960ern längst vorbei, alle, die ich kannte, schienen eine Heimat zu haben. Trotz allen Geschichtsunterrichts, trotz all der Kriege in der Welt begreife ich erst jetzt so richtig, oder beginne zu begreifen, was Krieg, Flucht und Vertreibung tatsächlich bedeuten. Das liegt natürlich an dem Krieg in der Ukraine, aber auch Schriftstellern wie Abbas Khider, in Bagdad geboren, nach Haft und Folter vor dem Hussein-Regime über viele Stationen schließlich nach Deutschland geflohen, heute mit deutscher Staatsangehörigkeit in Berlin lebend. Seine Bücher sind eine unbestimmbare Mischung aus Autobiographie und Literatur, wie die beiden Weine gänzlich unprätentiös, wirken leicht und berühren doch gerade deshalb sehr.

In seinem aktuellen Werk, dem relativ kurzen Roman Der Erinnerungsfälscher, heißt es (Said ist die Hauptfigur aus Bagdad, nach Berlin geflüchtet, Monica seine deutsche Frau):

Said ist noch immer jemand, der der Welt nicht traut. In der Fremde gibt es keine Himmelsrichtungen. Das weiß er aus eigener Erfahrung. Man sollte jederzeit dazu bereit sein, das Feld zu räumen oder mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. Die Fremde ist eine Fahrt auf einer verflixt langen Straße, die sich in Serpentinen schlängelt und ins Nichts führt. […] Monica stammt aus einer Mittelschichtfamilie und hat im Gegensatz zu Said nie politische Katastrophen erlebt oder jemals Geldsorgen gehabt. Hoffmann heißt sie mit Nachnamen. Keiner würde je auf die Idee kommen, den Hörer aufzulegen, wenn sie ihren Nachnamen ausspricht. Kein Polizist würde sich trauen, sie grundlos auf der Straße nach ihrem Ausweis zu fragen. Sie würde niemals als Flüchtling, Migrantin oder Inländerin auf Papier angesehen, sondern immer als eine Hoffmann. Saids Welt zwischen zwei Kulturen war ihr fremd, und vergeblich versuchte sie, sich diese Welt vorzustellen. Irgendwann entschied Said sich dazu, mit Monica ausschließlich die Sorgen und Probleme in Deutschland zu teilen. Was sich im Irak abspielte, alles, was mit seinen Wurzeln und seiner schattigen Hautfarbe zusammenhing, das wollte er fortan mit sich selbst ausmachen. […] Das ist Said Al-Wahid, ein verstecktes Ich und ein sichtbares Ich, die unvereinbar sind, aber dasselbe Schicksal teilen müssen.

Die Idee dieser monatlichen Empfehlungen: Zwei Flaschen, und zu den flüssigen Geschichten außerdem eine in Worten, oft in Gedicht- oder Musikform – das ist der Heinzelwein-Dreier. Kein Verkaufsformat, sondern der Versuch, zumindest einen Teil dessen, was mir so an Wein und Worten begegnet, mit Euch zu teilen – abonnieren könnt Ihr diese Serie hier. Und damit Ihr nicht lange suchen müßt: die Weine gibt es hier und hier, hier könnt Ihr das Buch bestellen. Lesen, trinken und schmecken, denken und leben, müßt Ihr selbst, in welcher Heimat auch immer.

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