Heinzelwein-Dreier für den August 2020: Zwei weiße Balkon-Burgunder und Gedanken zum Leben und der Welt mit Carolyn Steel

Der Heinzelwein-Dreier ist eine monatliche Serie, die Ihr hier abonnieren könnt.

Dies ist der Sommer der Ausflüge in die Umgebung, der Picknicks im Park, vor allem aber, in meinem Fall, der langen Abende auf dem Balkon. Als sei ich all die letzten Jahre auf Vorrat gereist, zieht es mich im Moment so überhaupt gar nicht in die Welt hinaus, sondern zu Geranie, Clematis und Spatzenkrakeel, mit Blick auf eine große Pappel, ein Stück Himmel über Berlin, die blinkende Spitze des Fernsehturms und, spätabends, die flattrigen Runden zweier Fledermäuse. Ich habe Kabeljau in Neufundland, braunen Käse auf den Lofoten und Croissants am Hafen von Marseille aus vollem Herzen genossen – doch im Moment ist mein Balkon für mich der schönste Speisesaal.

Serviert wird leichte, schnelle Sommerküche, Salat, Gemüse, gelegentlich ein wenig Fleisch oder Fisch, immer gefolgt von einem Stückchen Käse. Die Weine sind von ähnlicher Stimmung: feiner Stoff, vergnügter Stoff, viel weiß, sehr oft rosé, und gerne auch Bubbles, seltener rot. Anstrengend geht gar nicht, Monsterzeug auch nicht, denn gleichzeitig sind diese Balkonabende auch Leseabende.

Ihr seid von mir viel Riesling gewöhnt, heute gibt es zwei Burgunder, die von Picknick über klassisches Abendbrot bis zu oben angesprochener Sommerküche so ziemlich alles einfühlsam begleiten, sich aber auch solo wohlfühlen (und Ihr Euch mit ihnen ;).

Der 2019 Weißburgunder von Katja und Jens Baeder ist unaufdringlich und weiß doch mit Nektarinenfrucht , einer kernigen Ahnung von Walnüssen und runder, frischer Säure genau, was er will. Die beiden haben sich in den letzten 12 Jahren in der Rheinhessischen Schweiz quasi aus dem Nichts sehr erfolgreich ein Weingut aufgebaut, das ich als bodenständig im allerbesten, modernsten Sinne des Wortes beschreiben würde. Keine Schnörkel, kein Gedöns, und aus Prinzip rundherum ökologisch. Sie selbst sind ebenso inspirierend und dabei gänzlich unprätentiös wie ihre Weine.

Der 2019 Grauburgunder Black Label von David Klenert duftet nach dunkelgelbem, herbem Honig, läßt an Melonen und die Ruhe kommender Herbsttage denken, ist kremig ohne ins Schwere abzukippen. Auch dies ist ein junges Weingut, etwas weiter südlich, im badischen Kraichtal, zwischen Karlsruhe und Heidelberg. David und seine Frau Eva habe ich noch nicht persönlich kennengelernt, aber mir gefällt der Tatendrang, der auf ihrer Website zum Ausdruck kommt, und auch hier der grundsätzlich ökologische Ansatz.

Gelesen habe ich dazu in den letzten Tage das neue Buch von Carolyn Steel, Sitopia. Die Engländerin ist Architektin, die bereits in „Hungry Cities“ spannend und eindrücklich gezeigt hat, wie die Städtestruktur von der Versorgung ihrer Bewohner mit Lebensmitteln bestimmt wurde und wird. In „Sitopia“ geht sie noch weiter: „How Food Can Save the World“, wie Essen die Welt retten kann, heißt der Untertitel. Ebenso zugänglich und vergnüglich und doch philosophisch und tiefgreifend (wie die beiden Weine) beleuchtet Steel die großen Fragen des Lebens: wo kommen wir her, wie sind wir dem Irrglauben verfallen, Essen sei eine selbstverständliche Nebensache, deren Produktion und Verarbeitung man am besten anderen überlasse – und wie kommen wir da wieder raus? Sitos ist der griechische Begriff für Essen, Food, topia der Ort, und Sitopia demzufolge ein vom Essen und der Nahrung bestimmter Ort, ein Foodplace.

Steel, die von sich selbst sagt, sie habe der akademischen Welt ganz bewußt den Rücken zugekehrt, schreibt: „This is the true meaning of Sitopia: using food to understand what it means to be human and to coexist with our fellow humans and non-humans through time. By eating together consciously, we can be both grounded and transported, connected to a greater order of things. We can exist, for a period, both inside and outside time, and we can feel profoundly at home.“

300 Seiten großartiger Lesestoff, Futter für Seele, Herz und Geist (die ja eigentlich eins sind), mit zusätzlichen Anstößen zum Nachdenken in Form von Zitaten garniert, von Marcus Aurelius über Dylan Thomas und Timothy Morton bis hin zu Rainer Maria Rilke:
Ach, das Gespenst des Vergänglichen, durch den arglos Empfänglichen geht es, als wär es ein Rauch.

Lesen. Trinken. Denken. Umdenken. Handeln.

Ich wünsche Euch einen gelassenen, entspannten Sommer, wo immer Ihr ihn verbringt.

Die Idee dieser monatlichen Empfehlungen: Zwei Flaschen, und zu den flüssigen Geschichten außerdem eine in Worten, oft in Gedichtform – das ist der Heinzelwein-Dreier. Kein Verkaufsformat, sondern der Versuch, zumindest einen Teil dessen, was mir so an Wein begegnet, mit Euch zu teilen – abonnieren könnt Ihr diese Serie hier. Und damit Ihr nicht lange suchen müßt: die beiden Weingüter findet Ihr hier und hier, Sitopia könnt Ihr hier bestellen. Trinken, schmecken, denken, leben müßt Ihr wie immer selbst – keep safe!

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