Heinzelwein-Dreier im April 2019: Riesling und sichtbare, schmeckbare Zeit

Der Heinzelwein-Dreier ist eine monatliche Serie, die Ihr hier abonnieren könnt.

Schneeflocken im Wind. Blütenblätter
in der Luft. Der Schnee bleibt nur
noch kurz liegen, ein Schaum, sehr zart.
Und ein Vogelschwarm am Himmel,
schwarzes Schwirren und Wogen.
Im Heute das Morgen: weißes Torkeln
und Taumeln, rosafarbenes Regnen
und Rieseln. Fallen, auffliegen. Licht.

Nadine Olonetzky hat dieses Gedicht mit Ornament überschrieben. Aber die Illustrationen in ihrem eigentümlich anrührenden Buch „Belichtungen“ (Kommode 2018) sind keine Ornamente. Entstanden durch gefundene Objekte, die auf langsam vergilbenden Papier ihr Abbild hinterlassen haben, sind die blassen hellgelben Umrisse vor nur leicht dunklerem Hintergrund sichtbar gemachte Zeit. Die Gedichte – oder vielleicht könnte man sie auch Beobachtungen nennen – hat die Schweizer Autorin erst danach geschrieben.

Wein ist schmeckbar gemachte Zeit. Er verändert sich zwar auch farblich (Weißwein wird dunkler, Rotwein heller), aber vor allem geschmacklich, weg von all den frischen, fruchtigen Aromen zu balsamischen wie Bienenwachs, Tabak und frischer Erde. In den besten Fällen entsteht eine ganz neue Dimension an Komplexität, und trotzdem wirkt der Wein häufig stringenter. Doch auch hier ist viel Geduld vonnöten – weshalb es einfach wunderbar ist, wenn ein Winzer nicht nur großartige, charaktervolle Weine macht, sondern die zum Teil auch lange reifen läßt, bevor er sie in den Verkauf bringt.

Hajo Becker vom Weingut J.B. Becker in Walluf im Rheingau tut genau das (DANKE!) und zeigt, daß schmeckbare Zeit in Form von trockenem Riesling eine wahre Inspiration sein kann. Seine Weine sind meist eher leicht im Alkohol, und sie lassen innehalten. 2015 Walkenberg Kabinett trocken ist noch auf der frischen und farblich hellen Seite, duftet nach Birnen, erinnert aber auch schon an Nelken. Die 2011 Walkenberg Spätlese trocken leuchtet bereits einen Ton dunkler und deutet ganz leise schon Honigwachs an, bevor sich getrocknete Tabakblätter ins Bild schleichen.

Wo war ich vor acht Jahren, als die ersten Blätter an den Reben ausschlugen, die Trauben erst Hoffnung und Ahnung waren? Wer war ich vor sieben Jahren, als der junge Wein im großen Holzfass auf der Hefe lag? Was ist mir in den Jahren seitdem erfahren, während diese Flaschen im alten, feuchten Keller unweit des Rheins lagerten?

Das Jetzt, wenn es sichtbar wird, ist immer schon
vergangen. Klappen die Lider zu, wird das, was gerade
war, ein Bild mehr im Meer der Erinnerungen. Nur
weil sie vergehen, kann man die Augenblicke sehen.

(Augenblick I)

Die Idee dieser monatlichen Empfehlungen: Zwei Flaschen, und zu den flüssigen Geschichten außerdem eine in Worten, in Gedichtform – das ist der Heinzelwein-Dreier. Kein Verkaufsformat, sondern der Versuch, zumindest einen Teil dessen, was mir so an Wein begegnet, mit Euch zu teilen – abonnieren könnt Ihr diese Serie hier. Und damit Ihr nicht lange suchen müßt: hier gibt es die Weine und hier das Buch von Nadine Olonetzky.. Trinken, lesen, schmecken, denken müßt Ihr wie immer selbst.

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