Heinzelwein-Dreier für den Februar 2022: Weiterziehen und Wurzeln schlagen, in Carnuntum und der Emilia-Romagna, Jugoslawien und Hamburg

Der Heinzelwein-Dreier ist eine monatliche Serie, die Ihr hier abonnieren könnt.

Herkommen, hingehen… beginnen wir heute mit dem Buch, ist ja sowieso nur noch weniges unverändert, läßt sich also auch der Heinzelwein-Dreier vom einstigen Schluß her angehen. Daher: Saša Stanišić und sein autobiographischer Roman Herkunft, die Geschichte der bosnischen Heimatstadt seiner Kindheit und dem Ankommen der vor dem Krieg geflüchteten Familie in Heidelberg. Dem Sich-neu-orientieren, auch in einer neuen Sprache. Dem Familienzusammenhalt und doch stetem Zerfall: Stanišić bleibt in Deutschland und zieht schließlich nach Hamburg, seine Eltern werden abgeschoben und wandern in die USA aus. Jugoslawien zerfällt in kriegerisch verfeindete Nationalstaaten. In „Herkunft“ beobachtet Stanišić diesen Prozeß parallel zur wachsenden Demenz seiner Großmutter, die in Bosnien geblieben ist und deren Selbst zerfällt. Trotz, vielleicht wegen all der düsteren Seiten sehr leicht geschrieben:

Du stehst vor der Tür und liest: Ziehen.
Das ist eine Tür.
Das sind Buchstaben.
Das ist Z.
Das ist I.
Das ist E.
Das ist H.
Das ist E.
Das ist N.
Ziehen.
Willkommen an der Tür
zur deutschen Sprache.
Und du drückst.

Als ebenso leicht und doch tief läßt sich der 2020 Radice von Paltrinieri beschreiben. Schon wieder rosa Bubbles? Ja. Warum nicht? Sind nie verkehrt, und im Berliner Februar schon gar nicht. Radice: Wurzeln. In diesem Fall des Lambrusco di Sorbara, in der Emilia-Romagna mitten in Italien. Reinsortig, trocken, rhabarberduftend. Kein Phänomen der PetNat-Mode, sondern „schon immer so“.

Dorli Muhr hingegen mußte ihre Wurzeln in Carnuntum, einem der kleinsten österreichischen Anbaugebiete, vor den östlichen Toren Wiens, erst suchen und freilegen. Was ihr zusammen mit anderen Winzernachbarn am Knotenpunkt zwischen Ost und West, Alpen und Karpaten, schmeckbar gut gelingt. Ihre Weine sind nicht von den Rebsorten bestimmt (hier Blaufränkisch, sonst auch Zweigelt und Syrah), sondern der besonderen Situation des trockenen, kalkmageren Spitzerberg. 2017 Samt & Seide: transparente kirschig-rote Frucht, wahrhaft geschliffen, von unaufdringlicher und doch bestimmter Säure getragen.

Weine wie diese scheinen mir wie die Worte, die Schriftsteller wie Stanišić finden, um Herkunft, Ankommen, Sein zu fassen. Ich wünsche Euch feste Wurzeln, wo auch immer Ihr seid.

Die Idee dieser monatlichen Empfehlungen: Zwei Flaschen , und zu den flüssigen Geschichten außerdem eine in Worten, oft in Gedicht- oder Musikform – das ist der Heinzelwein-Dreier. Kein Verkaufsformat, sondern der Versuch, zumindest einen Teil dessen, was mir so an Wein und Worten begegnet, mit Euch zu teilen – abonnieren könnt Ihr diese Serie hier. Und damit Ihr nicht lange suchen müßt: den Radice gibt es zum Beispiel hier und den Samt & Seide (als 2018) hier. „Herkunft“ findet Ihr hier. Trinken, schmecken, lesen, denken, leben und entscheiden, wieviel genug ist, müßt Ihr wie immer selbst – keep safe.

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