Heinzelwein-Dreier für den September 2021: Ein letztes Sommer-Vivace im Glas, ein letzter Blick zurück aufs unendliche Blau am Meer

Der Heinzelwein-Dreier ist eine monatliche Serie, die Ihr hier abonnieren könnt.

Jedes Jahr passiert er immer wieder ganz plötzlich, und unerwartet, dieser Wechsel von langen, hellen, warmen Sommerabenden zu kühlem, dunklem Herbst. Jeder einzelne Sonnenstrahl während des Tages scheint nun nicht mehr anstrengend, sondern eine Wohltat, die es auszukosten gilt. Der September ist ein langer, stiller Abschied vom Sommer und allem, was er mit sich bringt.

Ihr merkt, er bringt auch meine sentimentale Seite zum Vorschein… Doch keine Angst, getrunken wird trotzdem! Und zwar mit den Erinnerungen, wahren oder erträumten, an lange Tage am Meer, der unendlichen Weite des Blaus von Wasser und Himmel, und der wunderbaren, lebhaften Melodik der italienischen Sprache. Beide Weine kommen aus dem Oltrepò Pavese, dem südwestlichen Zipfel der Lombardei, südlich von Pavia und dem Po, wo es ziemlich viel Gutes für ziemlich kleines Geld gibt.

Zuerst, für die letzten wahren Sommerstrahlen, lassen wir es richtig fein schäumen im Glas. Der 2017 Gran Cuvée von Travaglino ist ein Blanc de Noir aus Pinot Nero, flaschenvergoren, voller eleganter roter Früchte in mediterraner Fülle. Schwelgt in Tomaten dazu, packt nochmal richtig guten Fisch auf den Grill…

Und dann begrüßen wir den Herbst: Vivace! Bonarda von La Costanza, ebenfalls aus dem Oltrepò. Auch hier viel rote Frucht, aber darüber ein Hauch von Rauch, eine erste Ahnung Herbstlaub. Aus Croatina mit ein wenig Uva Rara, beides alte Sorten, im Drucktank fertig vergoren, und deshalb: rot, herbfruchtig und nicht ganz still, sondern lebhaft, vivace! Schmeckt mir am besten zwischen warm und kühl, wie der Herbst, und zu Kürbisrisotto…

Mit gefülltem Glas, der kulinarische Hunger gestillt, können die Gedanken wandern, schweifen, reisen. Mich hat dabei gerade The Anthropology of Turquoise von Ellen Meloy begleitet. Reflections on Desert, Sea, Stone, and Sky hat sie ihre Sammlung an Erinnerungen, Reiseberichten, Wissenschatz genannt, die 2002 erschienen ist. Meloy hat in Kalifornien, England, Montana, Utah und Colorado gelebt, voller Humor, manchmal Galgenhumor, und mit einem grundlegenden Staunen geschrieben, und sie erinnert mich zugleich an Rachel Carson, Rebecca Solnit und Patti Smith.

Es ist unmöglich, Turquoise zusammenzufassen, daher hier nur dies, zum Kosten:

In 1810, Goethe published his Theory of Colours, an exhaustive observation of how we see light, how we process a chaotic influx of sensory stimuli into perception. Goethe was enamored of the illusions and anomalies of color. His disciplined inquiry did not diminish his belief that the world read by our senses was in itself a revelation. Absolute knowledge, an explanation of everything, was not vital for joy or contentment, he wrote. „The highest goal that man can achieve is amazement.“ […]

On the beach at Casa Rosa [on the Gulf of Mexico], the sun strong and high in the sky, everywhere I look, the blues assert themselves. The turquoise sea forms an all-consuming horizon against which everything else stands – shells known locally as pea strigillas, ice-white with the palest of pink interiors; the cool blue-violet jacaranda blooms; hibiscus with reckless throats of sizzling red velvet. In the sea there are more colors than anyone has names for. Pliny the naturalist tried – aquamarine, he said, is the color of a calm sea, a not-storm blue. I can say aquamarine or ultramarine, turquoise or cerulean, yet words soon run thin and deficient for what is, after all, the simple apprehension of light.

Ellen Meloy ist sehr plötzlich 2004 gestorben, mit 58 Jahren im Schlaf (auch das paßt irgendwie zum September). Genießt die Farben, staunt, paßt auf Euch auf.

Die Idee dieser monatlichen Empfehlungen: Zwei Flaschen , und zu den flüssigen Geschichten außerdem eine in Worten, oft in Gedicht- oder Musikform – das ist der Heinzelwein-Dreier. Kein Verkaufsformat, sondern der Versuch, zumindest einen Teil dessen, was mir so an Wein und Worten begegnet, mit Euch zu teilen – abonnieren könnt Ihr diese Serie hier. Und damit Ihr nicht lange suchen müßt: die Weine gibt es hier und das Buch hier. Trinken, schmecken, lesen, denken, leben müßt Ihr wie immer selbst – keep safe.

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