Vor beinahe exakt einem Jahr war meine Reise zu unseren nomadischen Käsewurzeln nach Anatolien fest geplant, die Tickets gebucht, Heinzelcheese super aufgeregt – und dann entschieden höhere Mächte, tief in den widerwärtigen Niederungen der Politik zu wühlen. Viel giftig stinkender Schlamm flog in alle Richtungen. Obgleich ich der festen Überzeugung bin, daß politischen Idioten keinesfalls zugestanden werden sollte, uns vorzuschreiben, wohin wir reisen und wen wir treffen, war mir das alles doch ein bißchen heiß…
Langer Rede kurzer Sinn: jetzt hatte sich die Schlammschlacht zumindest soweit beruhigt, daß ich meine türkischen Käse- und Weinfreunde endlich besucht habe. Endlich die Schweizer Wurzeln des Gravyer in Kars erkundet habe, mich endlich in Boğatepe bei Kars intensiv mit Kaşar auseinandergesetzt habe, endlich in die Tulum-Höhle in Divle hinabgestiegen bin. Hätte mich in den vorangegangenen Wochen und Tagen nicht das Oxford Food Symposium mehr als beschäftigt, wären mir viele vor Vorfreude schlaflose Nächte sicher gewesen, wie ein Kind vor Weihnachten, Ostern und Geburtstag zugleich…
Ihr Heinzelcheesetalker kennt Euch inzwischen schon ganz gut aus mit türkischem Käse, aber ich brachte dieses Mal ganz neue Eindrücke und Käse mit, und Weinatolien (ein Versender türkischer Weine in Köln, sehr empfehlenswert) versorgte uns mit einer sehr spannenden und repräsentativen Auswahl von türkischen Weinen aus seinem Programm.
Wir begannen mit dem bestechend duftig-traubigem Mistet von Kavaklidere aus Pendore zum Gravier aus Kars. Diese kleine Stadt ganz im Osten Anatoliens ist durch Orhan Pamuks Roman weltbekannt, interessiert mich aber ganz besonders, weil sich hier über Rußland Ende des 19. Jahrhunderts eingewanderte Deutschschweizer eine ganz besondere Käsekultur entwickelt hat .
Die ganze Geschichte zu erzählen, fehlt hier der Platz (etwas ausführlicher hier, und dann nächstes Jahr im Herbst in meinem neuen Buch). Neben dem ganz besonderen Kaşar, der hier aus Kuhmilch gemacht wird, ist Kars für den Gravyer bekannt, abgeleitet von Gruyère, eigentlich aber eine Form des Emmentalers. Boğatepe ist natürlich nicht Emmental, sondern liegt auf weit über 2000 Meter und die Kühe grasen auf den ausgedehnten Bergweiden – selbstverständlich schmeckt das Ergebnis anders, sehr dicht, sehr komplex. Auch der fadenförmige Çeçil gefiel Euch gut, und wir diskutierten über Essgewohnheiten: zum Frühstück mit Tomaten und Oliven, in Börek oder Fladenbrot gewickelt…
Mit Narince und Sultaniye-Emir kamen zwei leichtere, eher diskrete Weine ins Glas, wobei aber besonders der Narince ein äußerst duldsamer und kompatibler Käsebegleiter ist. Mit ihm (und dem beschwingt-fruchtigen Sauvignon Blanc Isabel von Sevilen von der Ägäis) erkundeten wir die jungen und gereiften Formen des Kars Kaşar, vom milden Malakan-Fladen von Ilhan Koçulu bis zum gereiften, großartig zwischen Säure, Salz und Bitternoten balancierenden Kaşar von Mehmet Ömür. Ganz anders, aber auch Kaşar: der gereifte Biberli Eski Kaşar aus Thrakien, aus Schafsmilch, bestens ergänzt vom kräftigen, eleganten Emir von Koçabağ aus Kappadokien.
Nächstes Käse-Thema: Tulum, die in einem Sack gereiften Käse, die es in unterschiedlichsten Formen in ganz Anatolien gibt. Sie gehen auf die Anfänge der Milchwirtschaft unserer Kultur zurück, als Hirtenvölker mit ihren Tieren zogen und die „schlafende Milch“, wie der türkische Gelehrte Mahmûd Kaşgarlı Käse im 11.Jahrhundert beschrieb, in Formen brachten, die sich lagern und transportieren ließen. Wir begannen, zum vergnügt leuchtenden Çal Karası-Roséwein Lâl von Kavaklidere aus Denizli, mit Lor, dem frischen Molkenkäse, der wie Ricotta gemacht wird (und den man auch gerne mit allerlei Süßem kombiniert).
Dann folgte, dank des großartigen Angebots meines Lieblingsfeinkostladens in Istanbul, Cankurtaran Gıda, ein direkter Vergleich zwischen zwei unterschiedlich Versionen des Schafsmilch-Tulum aus Erzincan: der eine als „bidon“, also im Plastikcontainer gereift, der andere als „deri“, im Leder. Ihr schmecktet deutlich die verschiedenen Aromen und die Unterschiede in Säure und Salz und hattet Eure ganz eigenen Präferenzen. Der burgunderartig anmutende, fruchtigherbe rote Kalecik Karası von Vinkara aus der Gegend nordöstlich von Ankara gefiel uns allen sehr, ebenso wie der folgende dunklere, souveräne Öküzgözü von Kayra aus Elazığ, viel weiter östlich in Zentralanatolien. Letzterer hatte auch keine Berührungsängste mit dem komplexen, intensiven fellgereiften Tulum aus Kargı, aus Schafs- und Ziegenmilch. Schließlich machten wir noch einen Abstecher über die armenische Grenze (wenn das in Wirklichkeit nur auch so einfach wäre!) und öffneten das rotversiegelte Tontöpfchen mit Aitsi Panir, einem kremigen, kräutergewürzten und sehr kräftigen Ziegenkäse… Danke für Eure Offenheit und Begleitung auf dieser Erkundungsreise – cheesio.
HeinzelCheeseTalks finden rund einmal im Monat an einem Freitag um 18h in der Markthalle Neun in Berlin-Kreuzberg statt, an dem langen Tisch gegenüber vom Suff-Weinstand. Ich bringe spannende Käse mit, öffne ein paar Flaschen Wein, wir verkosten, reden, diskutieren, alles ganz entspannt (und größtenteils auf deutsch – obgleich wir es im allgemeinen auch schaffen, den einen oder anderen auf englisch “mitzunehmen”). Die Einladung geht etwa zehn Tage vorher an eine Mailingliste, die fünfzehn Plätze am Tisch werden auf Reservierung per Email vergeben, die meinerseits am Montag vor dem HeinzelCheeseTalk schriftlich bestätigt wird. Ich freue mich über einen freiwilligen Kostenbeitrag von zwölf Euro pro Käsegenießer (bar am Ende des Abends), wenn’s extra viel Spaß gemacht hat, dürfen es auch ein oder zwei Euro mehr sein… cheesio!