Käse des Monats August 2017: Kars Kaşar aus Boğatepe/Ostanatolien, Türkei

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Zwei Dinge faszinieren mich ganz besonders an den traditionellen Käsen Anatoliens: in ihnen sind die Verbindungen zur Vergangenheit, zu den nomadischen Anfängen unserer Kultur, noch sehr lebendig, und sie bringen die Schichtungen und Vermischungen unserer kulturellen Prägung deutlich zum Ausdruck. Wir alle sind Migranten und von vielen Kulturen geprägt, wir sind uns dessen nur nicht immer bewußt.

Der kanadische Journalist Doug Saunders zitiert in seinem überaus aktuellen und lesenswerten Buch „Arrival City“ den britisch-ghanesischen Philosophen Anthony Appiah: „Wir brauchen keine niedergelassene Gemeinschaft, kein homogenes Wertesystem, haben sie nie gebraucht, um eine Heimat zu haben. Kulturelle Reinheit ist ein Oxymoron.“ Salman Rushdie verteidigte seinen Roman „Die satanischen Verse“, indem er ihn mit eben solch einem Ort des Ankommens verglich, mit der Hybridität, Unreinheit, Vermischung, der Verwandlung, die aus neuen und unerwarteten Verbindungen menschlicher Wesen, Kulturen, Ideen, Politik, Filmen, Liedern entsteht. Er jubelt über Bastardisierung und fürchtet sich vor dem Absolutismus des Reinen. Melange, Mischmasch, ein bißchen von diesem und ein bißchen von jenem, so kommt etwas Neues in die Welt.“

Lange Vorrede für meinen Käse des Monats, den Kaşar aus dem Dorf Boğatepe bei Kars, weit im Osten Anatoliens, ganze 50 Kilometer vor der armenischen Grenze (die dort allerdings geschlossen ist – aber das ist wieder eine andere Geschichte).  Rund um Kars wird in den Dörfern nicht nur Kaşar, sondern auch der langfädige Çeçil und Gravjer gemacht, in den Hauptstraßen der kleinen Stadt reiht sich ein Käseladen an den anderen, am Flughafen empfiehlt sich jemand zugleich als Auto- und Viehhändler.

Das kommt nicht von ungefähr: in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert ließen sich über Russland kommende deutschschweizerische Auswanderer hier nieder und brachten ihre Käsetraditionen mit (Gravjer, „Gruyere“, ist ein Emmentaler). Ilhan Koçulu, der Kenner und Verfechter türkischer Käsetraditionen schlechthin, ist einer ihrer Nachkommen. Er lud mich im Juli nach Boğatepe ein, um bei einem Festival in der Jury mitzuwirken, die ein Jahr nach der offiziellen Registrierung des Herkunftsschutz des Kars Kaşar 32 dieser Käse verkostete.

Kaşar gibt es in sehr unterschiedlicher Qualität, aber Kars ist zu Recht für ihn berühmt. In seiner Erzeugung vermischen sich Methoden, die sowohl an Cheddar als auch Filatura-Käse wie die sizilianischen Cacciocavallo und vor allem den großformatigen Ragusano erinnern (und natürlich ist er mit bulgarischem Kaschkawal und griechischem Kaseri verwandt). Er kann aus Schafs- und Ziegenmilch gemacht werden, die Käser in Kars jedoch sind stolz auf ihre Zavot-Kühe (was auf das russische Wort für „Fabrik“ zurückgeht). Der leicht gepreßte Bruch säuert 9 bis 10 Stunden in großen Blöcken in der Abtropfwanne, wird gemahlen, ruht nochmals leicht beschwert für 4 Stunden und wird wiederum gemahlen. Die Bruchstücke werden dann in großen Sieben in über 80°C heißes Salzwasser getaucht und die schmelzende Masse mit einem Stock vermengt.

Schließlich werden die Käse fünf Minuten mit Salz mit der Hand auf einem Holzbrett wie ein Brotlaib geknetet und in großen oder kleinen Formen mit einem eingelegten Namenssiegel des Erzeugers über Nacht gelagert. Danach reifen sie in einem Raum, der wie beim besten luftgetrockneten Schinken vom Bergwind durchstrichen wird. Die kleinen Käse werden ohne Rindenbildung nach etwa einem Monat verkauft, die großen systematisch auf- und umgestapelt und zu diesem Zeitpunkt in Jute verschnürt in Fünferstapeln in den sehr kalten Keller umgelagert. 120 Tage muß ein großer Kaşar aus Kars mindestens alt sein, um sich gereift nennen zu dürfen.

Für mich gab es zwei deutliche Favoriten in der Verkostung. Der eine, sehr jung und milchig, aber wunderbar ausgewogen in Salz und Milchsüße und von einer fantastisch lebendigen Säure getragen, kam von Ilhan Koçulu selbst, der vor zwei Jahren eine Genossenschaftskäserei gebaut hat, um die Dorfgemeinschaft neu zu beleben. Der andere duftete nach vielerlei getrockneten Kräutern (die Vielfalt auf den Bergwiesen ist enorm), wirkte zuerst krümelig, dann aber doch gar nicht trocken, und bestach mit einer äußerst komplexen Aromatik, die sich so lang über den Gaumen und in die Seele zog wie die Gebirgslandschaft am Horizont in den wolkenverhangenen Himmel. Zu meiner großen Überraschung (es war tatsächlich eine Blindverkostung) stammte dieser Käse von der Familie Ömür, die ich am Tag zuvor kennengelernt hatte, im Stall beim Melken zugeschaut hatte, von der in sich ruhenden Warmherzigkeit und Zielstrebigkeit beeindruckt gewesen war…

Celal Ömür sagte ganz beiläufig während des ganz einfachen und doch grandiosen Mittagessens: „Das Leben ist nicht schwierig, wir machen es schwierig.“ Sein Bruder Mehmet verarbeitet seit 14 Jahren die Milch des Hofes zu Käse: „Ich gebe meinem Käse Liebe, und der Käse gibt mir Liebe.“

Die Käse verstand ich trotz nicht existenter Türkischkenntnisse (ich wünschte…), doch alles andere wäre ohne die Übersetzungsdienste meiner Freundin und Kollegin Gamze Ineceli ganz unmöglich gewesen. So hingegen konnte ich mich auch mit jenen unterhalten, die mir von ihren deutschsprachigen Vorfahren berichteten.

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