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Ich war neulich in Belgien. Endlich. Aber leider viel zu kurz. Denn entgegen unserer Wahrnehmung ist das kleine Land an der Nordsee zwischen Frankreich, den Niederlanden, Luxemburg und Deutschland sehr spannend für uns Turophile (aka Käseliebhaber). Wir haben belgische Käse nur selten auf dem Schirm, wenn sie uns begegnen, ordnen wir sie typischerweise, sprachbedingt, entweder als französisch oder holländisch ein. Das gehört natürlich korrigiert! Aufmerksame Heinzelcheesetalker wissen, daß ich daran schon länger arbeite und haben vielleicht sogar bei der letzten Cheese Berlin Frederic van Tricht kennengelernt, Spitzen-Affineur aus Antwerpen, der sich ganz besonders für belgische handwerkliche Käse engagiert. Ich werde in der nächsten Zeit in der Effilee und der FINE über meine zwei Favoriten schreiben; aber Ihr bekommt hier einen Vorgeschmack.
Darf ich vorstellen? Désirée und Cyriel! Die beiden kommen aus Lummen, etwa eine Autostunde nordwestlich von Aachen, und gehören zur Karditsel-Ziegenkäsefamilie. Die ist für Belgien ziemlich untypisch, wo traditionell eher rotgeschmierte, aromatische (um nicht zu sagen, sehr intensiv riechende ;) Weichkäse aus Kuhmilch üblich sind. Das ist zweifellos dem maritim-feuchten Klima zuzuschreiben, und vielleicht auch der einzigartigen Bierkultur. Doch wie in Deutschland, oder Kalifornien, sind auch in Belgien landwirtschaftliche Quereinsteiger (aka alte Hippies ;) auf die Ziege gekommen, bei Karditsel nun bereits in der zweiten Generation. Cyriel birgt eine hauchdünne Ascheschicht in seinem Inneren und wird von einer champignonduftenden Weißschimmelrinde umhüllt; Désirée ist noch schlichter und gibt sich mit einer elfenbeinfarbenen Geotrichumhaut zufrieden. Beide sind handgeschöpft, ausdrucksvoll und gleichzeitig nahezu schwerelos.
Was ich auch nicht auf dem Schirm hatte und mich deshalb über den neuen Einblick gefreut habe, zu dem Konstantin Baum mir vor kurzem verholfen hat (Spitzen-Sommelier mit sehr interessantem Webshop): beschwingter, frischer, leichter Weißwein von der südlichen Rhône. Ju de Rolle nennt der Winzer Julien Mus ihn (ein Wortspiel mit dem französischen Wort Jus für Saft). Er hat sein Weingut Domaine de la Graveirette in Bédarrides 2005 gegründet und arbeitet biodynamisch. Rolle (aka Vermentino oder Pigato) ist eine Sorte, die besonders gut mit Hitze zurecht kommt. An der Rhône landet sie meist in weißen Cuvées, doch Julien Mus war sie 2021 zu schade dafür, wunderbar steinig und zitronenapfelig, so daß er sie separat abgefüllt hat. Verträgt sich bestens mit Käsen wie Cyriel und Désirée und zeigt, daß Umdenken und Neudenken angesagt ist.
Und dann noch, aus leider traurigem Anlaß, Türkei. Irgendwie, irgendwo, bin ich auf den kurzen, fragmentarisch angelegten Roman von Tezer Özlü Kıral gestoßen (* 1943 in Anatolien; † 18. Februar 1986 in Zürich), Die kalten Nächte der Kindheit (1985 von Wolfgang Riemann übersetzt auf deutsch erschienen). Darin erzählt sie vom Alltag, von Begegnungen, Sehnsüchten und den Elektroschocktherapien, denen sie in psychiatrischen Kliniken immer wieder unterzogen wird, und sagt im Vorwort:
„Ruhig darf man niemals sein. Ein großer Vorteil für mich ist, daß ich in der dritten Welt gelebt habe. Wir haben in der Türkei in den letzten 20 Jahren genug für zwanzig Menschenleben erlebt. Daraus ist eine Wut gewachsen. Eine Wut, die mir Mut gibt, etwas zu sagen. […] Ich versuche, die Grenzen zwischen Leser und Autor wegzuschaffen. Ich will zu meinem Leser so offen sein wie zu mir selbst. Ich gehe davon aus, daß jeder Leser soviel empfindet wie ich selbst.“
Es ist ein tiefer Einblick in ihr Seelenleben, aber auch die türkische Geschichte und Kultur. Anläßlich des Begräbnisses ihrer Großmutter „Bunni“ schreibt sie:
„Wir drei Geschwister gaben uns die größte Mühe, uns schnellstens von unserem Elternhaus zu lösen. Draußen, mitten im brodelnden Leben, in anderen Häusern, mit anderen Leuten, kam uns das Leben immer viel schöner vor. Bunni dagegen blieb immer zu Hause. Selbst im hohen Alter ging sie noch sehr langsam zum Markt nach Çarşamba hinauf. Sie legte Essiggemüse ein und kochte Rettichblätter. Mit den Abfällen, die ihr die Händler gaben, brachte sie sich mit ein paar hundert Lira durch.“
Mir ist durch diesen schmalen Band einmal mehr bewußt geworden, wie wenig wir über andere Menschen wissen – und ich wünsche Euch für den kommenden Monat möglichst viele neue Einblicke.
PS Was natürlich auch das Motto der Heinzelcheesetalks ist: der nächste findet am Freitag, den 24. März statt, Einladung folgt wie immer, und sofern sich nicht noch ganz andere Einblicke ergeben, wird es um sogenannte laktische Käse, also hauptsächlich durch die Aktivität von Milchsäurebakterien (im Gegensatz zu Lab) erzeugte.
PPS Das Buch ist auf deutsch anscheinend vergriffen, aber vor kurzem auf englisch erschienen. Konstantins Weine findet Ihr hier. Nach den Karditsel- und anderen belgischen Käse müßt Ihr selber suchen.
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