Der Käse für den Monat Juni 2020 ist: Grisette vom Ziegenhof Scellebelle in Münster/Westfalen

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„Ich bin so froh, mit dem Käse endlich einen guten Lebensrhythmus gefunden zu haben, dafür stehe ich auch gerne mal mitten in der Nacht auf.“ Dieser Satz von Sabine Jürß geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Es steckt soviel darin. Daß es Struktur braucht, um gut durchs Leben zu kommen. Daß es lange dauern kann, bis frau zur passenden Struktur findet. Daß es ok ist, sein eigenes Ding zu machen. Denn mitten in der Nacht aufstehen, das bedeutet auch kein oder sehr wenig „normales“ Sozialleben mit 8-17h/Montag-Freitag-Menschen. Stattdessen: sechzig Ziegen, ein Marktstand und Käse nach französischem Vorbild, wie die Grisette, ein kleiner geaschter Frischkäsetaler.

Ähnelt dem Loire-Klassiker Selles-sur-cher, ist aber kleiner und natürlich anders, weil die Weiden auf dem Demeterhof in Münster, bei dem Sabine Jürß – Anfang 60, kurze graublonde Haare, Brille, stämmig, lebhaft und doch in sich ruhend – mit ihren „Mädels“ Unterschlupf gefunden hat, anders aussehen als zwischen Tours und Orléans, und sie ihre ganz eigenen Vorstellungen hat. Sie melkt die eleganten braunschwarzen Tiere grundsätzlich nur selbst – „dann weiß ich, was Sache ist“ – und ist bereit, sich den natürlichen Schwankungen der Milch und damit ihrer Käsewerdung unterzuordnen. Neben dem Grisette gibt es eine ganz Reihe anderer Sorten, seit 2014 allesamt „lactique“, durch Säuerung dickgelegte Frischkäse mit nur sehr wenig Lab, und grundsätzlich aus euterwarmer Rohmilch. Dicklegen, schöpfen, abtropfen lassen, stürzen, wenden und salzen brauchen ihre Zeit und eben den richtigen Moment: „Von morgens bis abends, und dazwischen der Tag, mal gut, mal schlecht. Nach dem Käse richtet sich alles.“

Und das schmeckt frau: die trocken-samtige, grauweiß melierte Rinde duftet feinsäuerlich und so umamiwürzig wie eine leise brodelnde Fleischsauce, die Textur ist dicht und fest und schmilzt auf der Zunge (wenn frau denn Geduld hat!) wie ein Halva und Eisparfait in einem, jedoch mit einer tiefen, leisen Würze, die von der ebenso leisen, eleganten Säure getragen wird. Manche Chargen werden direkt unter der Rinde ganz leicht flüssig, andere mit der Reife immer fester und bröckeln dann schiefrig-blättrig beim Schneiden. Schlichtweg richtig guter Stoff.

Nochmal zurück zu Lebensrhythmus und -struktur: Scellebelle, das ist der Name einer armen Magd in dem 1907 veröffentlichten Roman „Der Flachsacker“ des flämischen Schriftstellers Stijn Streuvels. Er spielt in der Landschaft, die Jacques Brel in Le Plat Pays besingt, und der erste Satz des Romans lautet: „Ein schwerer grauer Himmel lastete über der Welt.“ – der Rhythmus der Natur, dem die Menschen unausweichlich unterworfen sind, wie die einen mit ihm und die anderen gegen ihn leben… Sabine Jürß hatte eine Verfilmung gesehen, den Namen Scellebelle gehört und gewußt: mit dem machst du mal was. In der Tat. Danke.

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