Heinzelwein-Dreier im Februar 2019: Gehen, fallen und wieder aufrichten, Laurie Anderson, Erling Kagge und Chardonnay

Der Heinzelwein-Dreier ist eine monatliche Serie, die Ihr hier abonnieren könnt.

Ich trinke ziemlich viel und ziemlich gerne Wein (und gehe mal davon aus, daß Ihr, die Ihr dies lest, dem Wein ebenfalls nicht vollständig abgeneigt seid). Das funktioniert gut, weil ich im Ausgleich dazu auch sehr gerne und sehr viel gehe. Ziemlich weite Strecken, zu Fuß. Aus meiner Sicht ist Gehen eine vollkommen unterschätzte körperliche Betätigung. Super-praktisch (frau gelangt ohne Hilfsmittel von A nach B) und super-therapeutisch (frau kriegt den Kopf frei vom alltäglichen Wirrwarr). Laurie Anderson, amerikanische Musikerin und Performance-Künstlerin, beschreibt das Gehen in dem Lied Walking & Falling als ein ständiges Fallen und Sich-wieder-fangen:

You’re walking. And you don’t always realize it,
but you’re always falling.
With each step, you fall forward slightly.
Over and over, you’re falling.

And then catching yourself from falling.
And this is how you can be walking and falling at the same time.

Fallen, sich fangen, wieder aufrichten, fallen, sich fangen… und dabei voran kommen. Darin steckt natürlich, daß es ohne Fallen kein Aufrichten und keine Veränderung gibt. Sich immer wieder neu aufrichten und die Welt um sich herum mit neuen Augen betrachten. Eigentlich ganz einfach, oder?

Gehen hat aber auch etwas mit Zeit zu tun:

Wenn man mit dem Auto auf einen Berg zufährt und sieht, wie kleine Bäche, Hügel, Steine, Moose und Bäume an einem vorbeisausen, wird das Leben kürzer. Man spürt den Wind, die Gerüche, das Wetter und die Veränderungen des Lichts nicht. Die Füße werden nicht wund. Alles geht ineinander über.
Nicht nur die Zeit wird eingeschränkt, sobald die Geschwindigkeit erhöht wird, auch das Gefühl für den Raum. Plötzlich ist man am Fuße des Berges. Das Erlebnis der Entfernung verschwindet. Am Ziel meint man möglicherweise, viel erlebt zu haben. Ich bezweifle es.
Wenn man dieselbe Strecke geht, und einen Tag anstelle einer halben Stunde unterwegs ist, wenn man ruhiger atmet, lauscht, den Boden unter den Füßen spürt, wird es ein ganz anderer Tag. Stück für Stück wächst der Berg, und man hat das Gefühl, als würde die Umgebung größer. Mit all den Dingen um sich herum vertraut zu werden, braucht Zeit. Als würde man eine Freundschaft aufbauen. Der Berg dort vorn, der sich langsam verändert, je näher du ihm kommst, wird zu einem guten Freund, noch bevor du ihn erreichst. Deine Augen, Ohren, Nase, Schultern, Bauch und Beine sprechen zu dem Berg, und der Berg antwortet. Die Zeit dehnt sich aus, du zählst sie nicht mehr in Minuten und Stunden. Und genau hier liegt das große Geheimnis, das alle, die gehen, miteinander teilen: Das Leben dauert länger, wenn man geht. Gehen verlängert jeden Augenblick… Je länger ich gehe, desto weniger trenne ich zwischen Körper, Geist und Umgebung. Die äußere und die innere Welt gehen ineinander über. Dann bin ich kein Beobachter mehr, der sich die Natur ansieht, sondern mein ganzer Körper ist involviert.

Das ist der norwegische Abenteurer und Verleger Erling Kagge in seinem Buch Gehen. Weiter gehen. 

Womit wir endlich beim Wein wären. Denn erstens ist das richtige Zeitmaß beim Verkosten und Trinken entscheidend, und zweitens das immer wieder sich neu darauf einlassen – aufgrund von Erfahrung einsortieren (sich fangen und aufrichten) und doch ständig bereit fürs Neue sein (fallen, sich wieder aufrichten und die Welt neu wahrnehmen).

In diesem Fall: Chardonnay. Nicht meine Lieblingsrebsorte. Ja, einige großartige Weine im Burgund und nach diesem Vorbild weltweit. Aber die sind allergrößtenteils nicht meine Preisklasse, und wenn Jancis Robinson ihnen wie vor kurzem in der Financial Times eine ganze Kolumne widmet, durchzogen von der Klage über die herrschende Knappheit – naja. Erstweltprobleme. Ansonsten sehr viele einfache Weine, die ich meist langweilig finde, da die Säure beim Chardonnay im Vergleich zu Riesling oder Assyrtiko einseitig wirkt, und der Körper eher monolithisch, neben Marsanne, Silvaner oder Trebbiano Spoletino ziemlich fade. Aber: Fallen. Aufrichten.

Erste Überraschung: 2017 Mandelberg Chardonnay von Peter Siener aus Birkweiler in der Südpfalz. Muschelkalkboden und Nordost-Hang – die Säure fleischig und frisch, mit viel Luft (am nächsten Tag) spannende gelbe Zitrusaromen der herben Art, und darunter Steinigkräutriges. Nicht breit, sondern tief. Holz? Ja, sicher auch irgendwo… Freut sich über Essen, in meinem Fall geröstete Karotten und Petersilienwurzeln mit Zitrone, Feta und Tahini.

Zweite Überraschung: 2017 Todo Sobre Mi. Chardonnay von der Bodega Cerrón, auf 850 Meter Höhe anderthalb Stunden mit dem Auto von Alicante landeinwärts in Fuente-Álamo/Jumilla gewachsen. Gelborangegrüne Frucht mit einem Hauch von Toast, und genau in dem Moment, als die Frucht zu fruchtig zu werden droht (fallen…) kickt die Säure sie nach oben, nach vorne (sich fangen). „Unsere Eltern waren Anfang der 1990er die totalen Hippies im Dorf, und sie fanden französische Rebsorten toll – also pflanzten sie als allererste hier Chardonnay,“ erzählt mir Juan José Cerdán, den ich mit seinem Bruder Carlos neulich auf der Millésime Bio in Montpellier getroffen habe.

Sein Ziel sind „nackte Weine“, ohne Holzmaske. 2017 war in dieser Ecke ein sehr warmer Jahrgang, der Alkohol liegt daher mit 13% etwas höher als gewöhnlich, und doch hat der Wein diese angenehme Balance: „We are really crazy about freshness and acidity.“ War neulich großartig zu Vacherin Mont d’Or, nicht der einzige Wein, der mir bei den beiden gut gefiel (Monastrell! Airén! Syrah!) – und dann haben sie auch noch Ziegen und machen Käse… Jumilla steht auf meiner Reisewunschliste, klar. Vielleicht gehe ich dahin aber nicht komplett zu Fuß.

Die Idee dieser monatlichen Empfehlungen: Zwei Flaschen, ganz unterschiedlich, und zu den flüssigen Geschichten außerdem eine in Worten, in Gedichtform – das ist der Heinzelwein-Dreier. Kein Verkaufsformat, sondern der Versuch, zumindest einen Teil dessen, was mir so an Wein begegnet, mit Euch zu teilen – abonnieren könnt Ihr diese Serie hier. Und damit Ihr nicht lange suchen müßt: hier gibt es den Mandelberg von Siener und hier und hier den Todo Sobre Mi (Mailorder auf Anfrage). Trinken, lesen, schmecken, denken müßt Ihr wie immer selbst.

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