Ein neuer Käse-Ort: Alte Milch in der Markthalle Neun, Berlin

„Da ist jemand, der will hier in der Halle Käse reifen.“ Das war das erste, was ich von Matthias Becker und seinem Alte Milch-Projekt hörte. Ich gebe zu, daß ich das nicht sehr erst nahm. Ich kann mich nicht erinnern, ob der lange, schlaksige Kerl damals auch schon grundsätzlich eine Wollmütze trug, aber es hätte meine Erwartungen nicht unbedingt gesteigert. Inzwischen habe ich längst Abbitte geleistet, und der Alte-Milch-Stand gehört für mich zu den Höhepunkten der Markthalle Neun. Matthias setzt langsam und beharrlich seine Vorstellungen um, und er hat tatsächlich einen gläsernen Reiferaum gebaut.

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Doch von vorn. Begonnen hat die offizielle Alte-Milch-Firmengeschichte nicht an dem jetzigen Stand, sondern an Matthias‘ ursprünglichen Wunschplatz: gegenüber den Toiletten. Ein Stand aus Euro-Paletten und ganzen drei Sorten Käse, Hartkäse in runden Laiben, basta. Warum dieser Platz? „Ich hatte wirklich Angst, als zu hipstermäßig und prätentiös rüber zu kommen, und das hat auch super funktioniert. Alle kannten mich als der mit dem Sch…platz, selbst die Leute aus dem Kiez haben mich als Underdog akzeptiert.“

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Wie kam der 33-jährige Norddeutsche als Werbetexter überhaupt zum Käse? Zufall. Werbetexten war letztendlich nicht sein Ding, also brauchte er einen Job, und beim Arbeitsamt wurde ein Käseverkäufer gesucht. So landete er 2011 bei Ivo Knippenberg hinter der Käsetheke. Die Situation gefiel ihm gut, Reden, Zuhören. Und weil er dachte, ohne Studium ginge es nicht, beschäftigte er sich zwei Semester lang in Wien mit Psychologie. Um dann zu Knippenberg und zum Käse zurückzukehren und beim ersten Besuch der Cheese, der großen internationalen Slow Food-Käsemesse im Piemont, das Team von Neal’s Yard Dairy aus London kennenzulernen. „Da habe ich begriffen, daß es um viel mehr als das normale Einzelhandelverkäufer-Ding gehen kann, und das hat mich total angefixt.“ Auch entscheidend: Als er nach zwei Jahren an der Theke zum ersten Mal im Lager arbeitete, wo die Käse für die einzelnen Verkaufsstellen aufgeteilt wurden, und die intensive Aromatik frisch aufgeschnittener Laibe erlebte. Eine ganz neue Welt. Er stieß auf einen Podcast über Jason Hinds, wie der für Neal’s Yard Dairy Comté Laib für Laib persönlich im Reifekeller in Frankreich aussuchte. „Ich war total beeindruckt, und als ich das erstmal verstanden habe, warum man das tut, wurde mein Qualitätsbegriff ein ganz anderer. Mein Plan stand: Ich würde in der Markthalle Neun Käse verkaufen, und zwar nur einen einzigen, Comté, in Spitzenqualität.“ Als er jedoch Freunde dafür um Geld anging, war denen dieses Ein-Käse-Modell zu radikal.

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Wie kam er auf die anderen beiden Käse? Als er 2015 am Cheesemonger Invitational des New Yorker Importeurs Adam Moskowich von Columbia Cheese teilnahm, lernte er dort die holländische Käsehändlerin Betty Koster kennen, eine der Speerspitzen  der internationalen Qualitätsbewegung. Der Boerenkaas, handwerklich erzeugter Rohmilch-Gouda, faszinierte ihn, und der liegt seitdem neben dem Comté. Als dritter im Bunde („zwei hätte irgendwie komisch gewirkt“) mußte etwas aus Deutschland her. Hof Backensholz, wo Familie Metzger-Petersen seit Anfang der 1990er kurz vor der dänischen Grenze ihre Rohmilchkäserei stetig aufgebaut hat, war ihm bereits ein Begriff. „Als mich Thilo Metzger-Petersen bei meinem ersten Besuch am Bahnhof abholte, war uns nach fünf Minuten klar, daß wir zusammen arbeiten würden.“ Der über Monate, manchmal auch Jahre gereifte Deichkäse gehört seitdem zum Standardprogramm.

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„Heute habe ich um die zehn Käse, die auch immer wieder wechseln, und meine Vorstellung ist die einer ständig neu kuratierten Käseplatte. Die Kunden haben das klar begrenzte Angebot nie als negativ empfunden, sondern als Stärke.“ Matthias sieht sich – zu Recht – nicht als „noch ein Käsehändler“ oder Konkurrent der Vollsortimenter, sondern als Vermittler zwischen Erzeuger und Kunde. Der direkte Kontakt zu den Produzenten ist für ihn essenziell: „Reflektierte, witzige Menschen machen auch spannende Käse, das ist kulturelles Kapital, mit denen muß ich auch nicht über Preise verhandeln.“ Wie findet er seine Käse? „Da ist viel Zufall und Bauchgefühl dabei, eins führt zum anderen.“ So wie bei den beiden Iren, die zur Cheese Berlin im November 2016 und jetzt wieder beim #rawmilkcheese appreciation day im April mit ihren Käsen am Stand zu Gast waren, Tom Cropp von Corleggy und Mike Thomson von Mike’s Fancy Cheese.

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Das Prinzip des begrenzten Angebots setzt sich in der sehr geradlinigen Gestaltung des Stands fort, der heute einen ebenso deutlichen Kontrast zu Matthias‘ Wollmütze bildet wie der anfängliche Sch…platz. Hinter diesem Look verbirgt sich der Einfluß von Matthias‘ Freund und Geschäftspartner Fabian Greitemann, der mit seiner Design-Agentur nicht nur das Konzept mitentwickelt hat, sondern auch den analytischen Blick von außen gewährleistet.

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Und immer wieder die moralische Rückenstärkung: „Das ist schon alles super viel zu stemmen! Ich muß mich noch daran gewöhnen, Geschäftsmann zu sein.“ Es ist nicht einfach, mit begrenzten finanziellen Mitteln Personal zu finden und zu halten, Familienaufgaben gerecht zu werden, sich nicht verrückt zu machen. Inhaltliche, reflektierte Begeisterung, und das noch dazu an einem Standort, der Käse-Vergangenheit hat. Da ist tatsächlich jemand, der in der Halle Käse reift. Alte Milch an einem historischen, neu belebten Ort.

(Fotos (c) Anna Warnow, Stefan Stefanescu und UH)

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