Heinzelwein-Dreier für den Oktober 2022: Zwei extreme Weißweine aus Santorini und stürmische Träume von Mascha Kaléko

Der Heinzelwein-Dreier ist eine monatliche Serie, die Ihr hier abonnieren könnt.

Warnung: Dieser Heinzelwein-Dreier stemmt sich gegen den Trend. Die Weine sind weder günstig noch kuschelig rund, das Gedicht auch kein wirklich tröstendes, sondern alles eher von Trotz geprägt. Denn „jetzt erst recht“ ist meiner Erfahrung nach oftmals ein besseres Motto.

Deshalb: Santorini – Griechenlands südlichste Kykladen-Insel. Das klingt nach Sonne, Meer und Strand. Stimmt alles, und die Touristen strömen in entsprechenden Scharen. Sitzen abends in der Taverne auf der Terrasse und starren übers tiefblaue Wasser in den gelborangeroten Sonnenuntergang. Der ist genauso extrem wie so vieles andere auf Santorini, allen voran die Sonnenstunden und Trockenheit. Trinkwasser wird aus Athen herangeschippert, die Handtücher der unzähligen Hotels dort gewaschen. Klingt krass, ist krass. Ein Tanz auf dem Vulkan – im allerwörtlichsten Sinn. Was als Santorini aus dem Wasser ragt, ist quasi der oberste Rand eines aktiven Vulkans, seine Spitze und ein weiterer Schlot Teil des Sonnenuntergangspanoramas. 

Eigentlich ist es ein ausgesprochen unwirtlicher Ort, der Boden steinig, die Küste an vielen Stellen steil, die weißgetünchten Häuser auch inlands vielerorts förmlich an die Ascheschichten der Hänge geklammert. Und so sind auch die Weine: in ihrer besten Form großartig. Reben wachsen hier schon seit Jahrtausenden – Santorinis Geschichte ist absolut faszinierend, in der Bronzezeit lebten hier Menschen in vierstöckigen Steinhäusern mit modernen sanitären Anlagen, trugen feinste Seide und trieben Handel im ganzen östlichen Mittelmeerraum… wenn Ihr nach Santorini fahrt, unbedingt die archäologischen Ausgrabungen in Akrotiri besuchen!

Aber zurück zu den Reben. Die kommen tatsächlich (wie auch Tomaten, aber das ist eine andere Geschichte) quasi ohne Wasser aus, und das macht die Weine ebenso extrem wie die Sonnenuntergänge (die Erträge auch, was wiederum die Preise erklärt). Neben etwas rotem Mavrotragano wird hier vor allem vor allem der weiße Assyrtiko angebaut. Dabei werden die Rebtriebe auf dem schmutziggrauen, von schwarzem Bimsstein und eisenroten Schichten durchsetzten Sand zu korbartigen Kränzen geflochten, um die Trauben vor der Sonne zu schützen und aus der kühleren Nachtluft soviel Feuchtigkeit wie möglich einzufangen. Das wirkt auch wie eine Form von Trotz, vor allem wenn man weiß, daß das alte Akrotiri vor 3500 Jahren erst durch ein Erdbeben zerstört und dann von den Lavamassen eines Vulkanausbruchs vollkommen begraben und damit ausgelöscht wurde.

Die Weine strahlen und blitzen, mit viel zitronengelben Aromen, viel Säure, viel Alkohol, sind Sommer- und Winterweine zugleich, stacheln an und auf. Brauchen ein großes Glas, freuen sich über nahezu alles auf dem Teller, inklusive Zitrone und Olivenöl – und über Zeit! Weswegen es ganz wunderbar ist, daß Gaia ihren Thalassitis bewußt auch als gereiften Wein anbieten. Genauso wie der 2021 Estate von Argyros ist auch der 2015 Thalassitis ein reinsortiger Assyrtiko, und beide möchten nicht allzu kalt erlebt werden. Aber das paßt zur Jahreszeit.

Genauso wie dieses Gedicht von Mascha Kaléko, auf die ich vor kurzem durch das Jüdische Theaterschiff MS Goldberg wieder gestoßen bin (liegt über den Winter in Potsdam – hingehen!). Aus Galizien nach Deutschland geflüchtet, in die USA emigriert, später nach Israel gezogen, hat die Dichterin (1907-1975) mit dem melancholischen Sprachwitz immer gegen Sprachlosigkeit gekämpft – in extremen Zeiten.

„Einer von jenen Träumen“:

Mein Traum war roter Mohn und blaue Rede,
Ein gelbes Weizenfeld, von Wind gewiegt,
Der Möwen weißer Schrei vom Meergestade,
Ein Sonntagsdorf, das grün im Frieden liegt.

War kühler Trunk in brauner Bauernschenke,
Der Enten jung Geschnatter um den Teich,
Geruch von Heu und Pferden an der Tränke,
Ein Kinderlied, fremd und vertraut zugleich.

Ich griff nach Korn und Mohn und blauer Rad.
Da waren meine Hände blutigrot.
Mir nah zur Seite spürte ich den Tod.
Sein Schatten suchte mich auf jedem Pfade:

Als Söldner lärmte er in allen Schenken,
Von allen Kanzeln in der Priester Tracht.
Im Schulhaus hockte er auf schmalen Bänken,
Und aus dem Dunkel schoß er in die Nacht;

Denn selbst der Vögel sanfter Wolkenflug
War Trug.

Er rief und winkte mir auf allen Wegen.
Da hob ich meine Arme ihm entgegen
Und sprach: Ich weiß, mein Leben ist verwirkt.
Für mein Vergehen gibt es keine Gnade.

Da jeder Halm ein frühes Grab verbirgt,
Kam ich um roten Mohn und blaue Rede –.
Erschrocken nickte Halm und Strauch und Baum.
Die Glocken alle schrieb.

Dies war mein Traum.

Damit es jetzt nicht ganz so finster endet, noch schnell die letzte Strophe von

„Sozusagen grundlos vergnügt“

[…]

In mir ist alles aufgeräumt und heiter:
Die Diele blitzt. Das Feuer ist geschürt.
An solchem Tag erklettert man die Leiter,
Die von der Erde in den Himmel führt.
Da kann der Mensch, wie es ihm vorgeschrieben,
– Weil er sich selber liebt – den Nächsten lieben.
Ich freue mich, daß ich mich an das Schöne
Und an das Wunder niemals ganz gewöhne.
Daß alles so erstaunlich bleibt, und neu!
Ich freu mich, daß ich… Daß ich mich freu.

Seid froh – und sei es nur aus Trotz.

Die Idee dieser monatlichen Empfehlungen: Zwei Flaschen, und zu den flüssigen Geschichten außerdem eine in Worten, oft in Gedicht- oder Musikform – das ist der Heinzelwein-Dreier. Kein Verkaufsformat, sondern der Versuch, zumindest einen Teil dessen, was mir so an Wein und Worten begegnet, mit Euch zu teilen – abonnieren könnt Ihr diese Serie hier. Und damit Ihr nicht lange suchen müßt: die Weine gibt es hier. Das Buch könnt Ihr hier vorbestellen, das Theaterschiff findet Ihr hier. Lesen, trinken und schmecken, denken und Euch trotzig freuen müßt Ihr wie immer selbst.

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