Heinzelwein-Dreier für den März 2021: neue alte Aromen von der Adria und die Zweitrangigkeit der Sprache

Der Heinzelwein-Dreier ist eine monatliche Serie, die Ihr hier abonnieren könnt.

Direkter Einstieg: zuerst kommt der Duft, der Geschmack, der sinnliche Eindruck, und erst dann das Wort, das ihn wiedergibt, analysiert, zu fassen versucht. Ohne das Erste, das Gegebene, ist das Zweite unmöglich, buchstäblich sinn-los. Wenn wir die wahren Dinge im richtigen Leben (im Gegensatz zu ihrer Wiedergabe mithilfe von diversen Technologien) verlieren, das, was wir allgemein „Natur“ nennen, bleiben uns nur noch leere Worthülsen, verschwommene Erinnerungen: „Es ist nichts im Verstand, was nicht zuvor in den Sinnen war“, sagt der französische Philosoph Michel Serres.

Philosophischer Einstieg. Muß manchmal sein und hilft, durchs Leben zu kommen. Erklärt nämlich unter anderem, warum es so wichtig ist, alte Rebsorten zu erhalten, die einen ganz bestimmten Flecken Erde in Aromen übersetzen. Hier zwei Weine als Beispiel, die ich Euch gerade für die ersten Frühlingsgefühle ans bacchantische Herz legen möchte.

2018 Vitovska von Benjamin Zidarich kommt aus dem Karst, der Region, die sich an der nördlichen Adria über Venezia Giulia in Italien bis in den Westen Sloweniens zieht. Die Sorte stammt von dort und bringt die von Felsen geprägte Landschaft mit ihren kargen, eisenhaltigen Böden ins Glas. Zidarich läßt die weißen Trauben zudem auf den Schalen vergären und füllt unfiltriert: helles Orange im Glas duftet nach Orangenschale, Heu und Salbei, vielleicht einer Spur Quitten, golden und doch mit einem festen Griff, ohne einen Anflug von weicher, warmer Frucht – perfekt zu rohem Lachs oder Steak Tartar.

2019 Krš Bijeli Žilavka vom Weingut Škegro führt uns weiter südöstlich nach Herzegowina, bei Mostar, etwa eine Autostunde von der Adriaküste entfernt. Die weiße Žilavka ist hier zuhause und weitverbreitet, und nein, ich bin ihr neulich auch zum ersten Mal begegnet. Doch nun freut mich ihre feinmürbe gelbe Apfelfrucht, die herbe Walnußnote – oder ist es Birne und eine Idee von Bockshornklee? Die Säure ist rund und belebend, und alles zusammen ganz großartig zu leicht bitteren Blattsalaten mit kräftigem, auch gerne anchovis-lastigem Dressing.

Und nun zu Michel Serres und einem Auszug aus seinem Buch Les Cinq Sens, die fünf Sinne. Schenkt Euch einen Schluck ein, es wird ein wenig länger, und es stößt so vieles an, über das nachzudenken sich unbedingt lohnt…

Diese so verbreitete Idee, daß alles gesagt werden muß und alles sich in der Sprache löst, daß jedes wahre Problem Stoff für Debatten gibt, daß die Philosophie sich auf Fragen und Antworten reduziert, deren man sich nur sprechend annehmen kann, daß Lehre allein über den Diskurs erfolgt, dieser geschwätzige, theatralische, marktschreierische, schamlose Gedanke verkennt, daß es Wein und Brot, ihren sanften Geschmack und ihren Geruch wirklich gibt, er übersieht, daß kaum merkliche Gesten gleichfalls lehren können, er vergißt das stillschweigende Einverständnis und die Komplizenschaft, er vergißt, was sich von selbst versteht, ganz ohne Worte, das stille Bitten um Liebe, die Eingebung, die einschlägt wie ein Blitz, die Anmut einer Bewegung, diese Richteridee verdammt die Ängstlichen, jene, die nicht immer ihrer eigenen Meinung sind und nicht wissen, was sie denken, die Forscher; diese Professorenidee schließt jene aus, die nicht am Seminar teilnehmen, die Erfinder und die Bescheidenen, jene die zögern und betroffen sind, die Menschen des Geistes und die Schmerzensmänner, die leidenden Gemüter und die Armen im Geiste; ich kenne so viele Dinge ohne Text und Menschen ohne Grammatik, Kinder ohne Wortschatz und Greise ohne Vokabular, ich habe so lange im Ausland gelebt, stumm und verschreckt hinter dem Vorhang der Sprachen. Hätte ich wirklich vom Leben gekostet, wenn ich mich nur aufs Hören und Reden beschränkt hätte? Das Kostbarste unter allem, was ich weiß, bleibt umfangen von Stille. Nein, weder die Welt noch die Erfahrung, weder die Philosophie noch der Tod lassen sich im Theater, bei Gericht oder in einer Vorlesung einschließen. Diese wahre Idee vergißt die Physik und das Leben, Wissenschaft und Literatur, Schamhaftigkeit und Schönheit.

Vertraut Euren Sinnen, folgt ihnen… und paßt weiterhin auf Euch auf, bitte.

Die Idee dieser monatlichen Empfehlungen: Zwei Flaschen, und zu den flüssigen Geschichten außerdem eine in Worten, oft in Gedicht- oder Musikform – das ist der Heinzelwein-Dreier. Kein Verkaufsformat, sondern der Versuch, zumindest einen Teil dessen, was mir so an Wein und Worten begegnet, mit Euch zu teilen – abonnieren könnt Ihr diese Serie hier. Und damit Ihr nicht lange suchen müßt: den Vitovska gibt es hier, den Žilavka hier und Die Fünf Sinne von Michel Serres hier. Trinken, schmecken, lesen, denken, leben – leuchten! – müßt Ihr sowieso wie immer selbst – keep safe.

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