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September: der Höhepunkt des Wachsens ist zumindest in unseren Breitengraden deutlich überschritten, längst geht alles bei abnehmender Helligkeit ins Reifen über, seien es Früchte, Gemüse oder Pflanzen als solche. Ihr wisst schon, Rilke, Herbsttag, wer jetzt kein Haus hat… Ihr habt hoffentlich eins, und könnt das Reifen und Werden beobachten.
Und bevor das jetzt komplett ins Philosophische abrutscht, zum Käse! Von ganz frisch wie feinster, leicht gesalzener Quark zu verdichtet und komplexer, von unbeschwerter Säure und Milchigkeit zu Tiefe und Umami zum Hinhören. Hier sind drei kleine Käse, die ich sämtlich als mehr oder weniger frische gekauft habe und unterschiedlich lange offen (also nicht eingepackt und immer wieder wendend) im Kühlschrank gelagert habe. Dabei trocknen sie leicht aus und bilden zuerst eine Heferinde (die Elfenbein-Farbe und das Gekräuselte), dann ein wenig Weißschimmel (à la Camembert). Sie konzentrieren sich im Geschmack, werden dichter in der Textur, regen immer mehr zum Hinschmecken und Nachdenken an (Klicken auf die Bilder vergrößert sie). Könnt Ihr mit handwerklichen Käsen dieser Art auch im eigenen Kühlschrank beobachten! Je wärmer und feuchter der ist, desto schneller verändern sich die Käse… meine kamen übrigens von Hof Ogrosen im Spreewald.


Komfizone ließe sich natürlich gerade im Moment besser verkaufen, bemerkte neulich Stefan Vetter, Winzer in Gambach/Franken, und das gilt für Käse ebenso wie für Wein. Gegen Komfizone – Frischfruchtiges im Glas, jung und unkompliziert auf dem Käsebrett – ist als solches nichts einzuwenden, doch als Lebenskonzept greift das auf die Dauer keinesfalls, ist nicht tragfähig… Da möchte etwas Nachdenken dazu kommen, über das was anspruchsvoll oder sogar unbequem ist, was zuerst einmal kratzt, sich aber dann vielleicht sogar als auf positive Art fordernd und wertvoll erweist. Stefans Weine, ungeschönt, unfiltriert, sind für die meisten im ersten Moment unkommod, weil sie nicht mit süßer Frucht, sondern mit erdiger Säure spielen, nicht streicheln, sondern fordern und wachhalten. Sein 2023 Müller-Thurgau Muschelkalk & Sandstein ist eine hervorragende Einführung, wenn Ihr die Weine noch nicht kennt, ansonsten liegt sein Schwerpunkt frankentypisch auf Sylvaner und etwas (hervorragendem!) Spätburgunder. Also: raus aus der Komfizone, und Ihr werdet feststellen, wie großartig sich die mehr oder weniger gereiften kleinen Käse mit diesen Weinen vertragen.


Zum Leben außerhalb der Komfizone, ach was, überhaupt zum Leben gehört unbedingt das Konzept Hoffnung. Ob Wein- oder Käsemachen, immer ist es (falls nicht hoffnungslos durch-industrialisiert) das Hoffen: das könnte, sollte, müsste so funktionieren… Der in Deutschland lebende südkoreanische Philosoph Byung-Chul Han beschäftigt sich damit in Der Geist der Hoffnung. Untertitel: Wider die Gesellschaft der Angst.
Die Angst geht um wie ein Gespenst. […] Wir befinden uns in einer Multikrise. […] Das weitverbreitete Klima der Angst erstickt jeden Keim der Hoffnung. Mit der Angst macht sich eine depressive Stimmung breit. Angst und Ressentiment treiben die Menschen auch in die Arme der Rechtspopulisten. Sie schüren Hass. […] Wo Angst herrscht, ist keine Freiheit möglich. […] Die Hoffnung hingegen errichtet Wegweiser und Wegmarken […] Sie gibt uns Sinn und Orientierung.
Er zitiert Nietzsche:
Die Hoffnung ist der Regenbogen über den herabstürzenden jähen Bach des Lebens, hundertmal vom Gischt verschlungen und sich immer wieder von Neuem zusammensetzend, und mit zarter schöner Kühnheit ihn überspringend, dort wo er am wildesten und gefährlichsten braust.
Auch ohne in allen Punkten mit Han übereinzustimmen fand ich dieses schmale Büchlein sehr inspirierend.



Schließlich noch was zum Käse-Lesen, im aktuellen Feinschmecker (mit vielen Protagonisten, denen Ihr im November wieder auf der Cheese Berlin begegnen könnt!), und der Hinweis auf den nächsten Heinzelcheesetalk in der Markthalle Neun, am 12. September. Und so wünsche ich Euch, dass Ihr dem Leben ohne Angst begegnet, trotz aller Hürden und Herausforderungen. Danke fürs Lesen.
Stefan Vetter findet Ihr hier (und ein ausführliches Portrait zu ihm von mir erscheint in der nächsten Ausgabe des Slow Food-Magazins), nach entsprechenden Käsen haltet Ihr selbst Ausschau, das Buch zur Hoffnung gibt es zum Beispiel hier.

